Dr. Frank Schwörer, Staatsanwalt und Referent für Zivilprozeßrecht und außergerichtliche Streitbeilegung beim Justizministerium Baden-Württemberg

Schlichtungsstellen eines Bundeslandes


« Mein Beitrag steht unter dem Titel „Schlichtungsstellen eines Bundeslandes.“ Dieser Titel könnte den Eindruck erwecken, Baden-Württemberg würde als Bundesland selbst Schlichtung betreiben. Das ist nicht der Fall. Wir beschränken uns statt dessen darauf, Schlichtung zu „vermitteln“.

Das heißt nicht, dass wir die Bedeutung der Schlichtung gering schätzten. Im Gegenteil: Das Justizministerium Baden-Württemberg hat sich zum Ziel gesetzt, die außergerichtliche Streitbeilegung zu fördern und eine neue Streitkultur nach dem Vorbild unserer Nachbarn in Europa und Amerika schaffen.

Die Vorteile der Schlichtung liegen für uns auf der Hand: Einvernehmliche Lösungen stärken den Rechtsfrieden. Darüber hinaus kann die Schlichtung Zeit und Kosten sparen. Schließlich kann sie helfen, die knappen Ressourcen der Justiz auf die Fälle zu konzentrieren, in denen eine streitige Entscheidung unumgänglich ist. Dies ist angesichts der gegenwärtigen Lage der öffentlichen Kassen, die auch für die Justizhaushalte nicht ohne Folgen bleibt, von wesentlicher Bedeutung.

Bei der „Vermittlung“ der Schlichtung in Baden-Württemberg ist zu unterscheiden zwischen der obligatorischen Schlichtung und der freiwilligen Schlichtung.

Zunächst zur obligatorischen Schlichtung. Der Bundesgesetzgeber hat den Ländern die Möglichkeit eröffnet, die Zulässigkeit der Erhebung der Klage vor den Zivilgerichten von der vorherigen Durchführung eines außergerichtlichen Einigungsversuchs abhängig zu machen. Baden-Württemberg gehört zu den Ländern, die davon bereits vor drei Jahren Gebrauch gemacht haben. Ein Schlichtungsverfahren ist danach obligatorisch bei
- vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis zu 750 Euro,
- Nachbarrechtsstreitigkeiten
- und Ehrverletzungen.
Liegt eine solche Streitigkeit vor, kann sich der Betroffene an eine beim Amtsgericht angesiedelte Gütestelle wenden. Diese Gütestelle unternimmt aber nicht selbst einen Schlichtungsversuch, sondern verweist die Sache an einen Schlichter. Dabei handelt es sich in Baden-Württemberg um Rechtsanwälte. Den Parteien steht es allerdings frei, den Einigungsversuch vor einer anderen Stelle zu unternehmen, wenn sie dies übereinstimmend wünschen. Durch die Einbeziehung der Anwaltschaft sollte nicht nur sichergestellt werden, dass der Schlichter über juristischen Sachverstand verfügt. Auf diese Weise sollten die Rechtsanwälte auch für ein neues Geschäftsfeld begeistert werden: die Tätigkeit als neutraler Vermittler, nicht nur als Interessenvertreter einer Partei.

Nach drei Jahren ist allerdings die Kritik an der obligatorischen Schlichtung gerade bei der Anwaltschaft am lautesten. Ob die Kritik berechtigt ist, wird sich nach Abschluss unserer Evaluation Mitte 2004 zeigen. Bislang liegen nur erste Erfahrungen vor, die noch keine abschließende Bewertung zulassen.

Im Vergleich zu den gerichtlichen Verfahren wirken die obligatorischen Schlichtungen auf den ersten Blick bescheiden. 2002 standen knapp 3000 Schlichtungsverfahren etwa 45.000 Verfahren vor den Amtsgerichten im Streitwertbereich bis 750 Euro gegenüber. Bei knapp 20 % der Schlichtungsverfahren konnte aber eine Einigung in der Sache erzielt werden. Besonders interessant ist, dass der Großteil der anderen Verfahren dennoch auf andere Weise befriedet wurde. Nur etwa 25 % der ohne Einigung abgeschlossenen Schlichtungsverfahren landete nämlich später bei Gericht.

Allerdings ist nicht zu leugnen, dass die Parteien die Schlichtung meiden, so gut es geht. Dazu dient vor allem das Mahnverfahren, dessen Durchführung von der Schlichtungspflicht entbindet. In Anwaltskreisen wird sogar behauptet, es handle sich um einen „Kunstfehler“, wenn die Möglichkeit des Mahnverfahrens nicht genutzt wird. Umgekehrt sinkt die Zahl der Rechtsanwälte, die bereit sind, Schlichtungen durchzuführen.

Kern des Unmuts dürfte unter anderem sein, dass die Durchführung der Schlichtung jedenfalls im Falle des Scheiterns einen Mehraufwand an Zeit und Geld bedeutet. Dieser Mehraufwand steht gerade bei Bagatellstreitigkeiten oft außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache. Das wirft die Frage auf, ob Bagatellstreitigkeiten für die Schlichtung wirklich geeignet sind. Dies gilt jedenfalls für reine Inlandssachverhalte. Bei grenzüberschreitenden Streitigkeiten mag die Schlichtung auch in Bagatellfällen häufig attraktiver sein, da bei der Titulierung und Vollstreckung hier immer noch eine Reihe kosten- und zeitintensiver Förmlichkeiten zu beachten sind.

Baden-Württemberg setzt aber nicht nur auf die obligatorische Schlichtung. Inzwischen steht hier ein breites Spektrum an Schlichtungsstellen zur Verfügung, die von den Parteien in Anspruch genommen werden können, wenn sie dies wünschen. Zu nennen sind insbesondere:
- die Vermittlungsstellen des Handwerks,
- die Schiedsstellen der Kfz-Innungen,
- die Schlichtungsstellen der Industrie- und Handelskammern,
- die Gutachterkommissionen der Kammern der freien Berufe,
- die Ombudsleute der Branchenverbände.

Eine Erhebung Ende 2002 ergab über 50 solcher Einrichtungen, die in Baden-Württemberg ansässig sind. Hinzu kommen bundesweit tätige Schlichtungsstellen, wie zum Beispiel die Ombudsleute und Kundenbeschwerdestellen der Bank- und Versicherungswirtschaft. Daneben existiert eine Vielzahl einzelner Mediatoren, die sich inzwischen in Baden-Württemberg vor allem im Bereich des Familienrechts auch in ländlichen Gebieten etabliert haben. Schließlich haben wir in Baden-Württemberg derzeit 23 Einrichtungen im Sinne von § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO als Gütestelle anerkannt. Obwohl unsere Anerkennungsrichtlinien dies nicht zwingend vorgeben, handelt es sich auch hier ganz überwiegend um Rechtsanwälte oder um Einrichtungen, die von Anwaltsorganisationen getragen werden. Einzelne dieser Gütestellen haben sich sogar spezialisiert, beispielsweise auf Güteverhandlungen in Englisch, Französisch oder Spanisch.

Dieses breite Angebot wird allerdings unseres Erachtens noch nicht ausreichend angenommen.

Auf der Suche nach Wegen, dies zu ändern, haben wir 2000 und 2001 einen Modellversuch in Stuttgart durchgeführt. Ziel des Modellversuchs war die Vermittlung von Streitsachen, die bereits bei Gericht anhängig sind, an Mediatoren zur Durchführung eines außergerichtlichen Einigungsversuchs. In geeigneten Fällen schlugen die Richter den Parteien vor, sich an einen externen Mediator zu wenden. Dieses Modell ist heute in § 278 Abs. 5 ZPO kodifiziert. Andere Bundesländer führen derzeit ähnliche Projekte durch, wobei die Mediation allerdings von entsprechend fortgebildeten Richtern selbst übernommen wird.

Die Auswertung des Modellversuchs ergab aus unserer Sicht vor allem, dass ein außergerichtlicher Einigungsversuch so früh wie möglich unternommen werden muss. Nur knapp 30 % der Fälle, in denen die Parteien eine Mediationsanregung annahmen, waren nämlich schon bei Gericht anhängig. Bei den anderen Fällen handelte es sich dagegen um Streitigkeiten, in denen noch gar keine Klage erhoben war. Die dortigen Parteien waren nur bei Gelegenheit des Modellversuchs auf die Möglichkeit der außergerichtlichen Streitbeilegung aufmerksam geworden. Dagegen waren die Parteien nur in 30 % der Fälle, in denen bereits Klage erhoben war, zur Durchführung einer Mediation bereit. Dies obwohl sich die Anregungen auf solche Verfahren beschränkten, die nach Auffassung des Richters besonders mediationsgeeignet waren.

Die geringe Akzeptanz außergerichtlicher Einigungsversuche bei Verfahren, die schon bei Gericht anhängig sind, scheint aber keine deutsche Besonderheit zu sein. Ähnlich strukturierte Modellversuche im Rahmen der „Grazer Mediationswochen“ im Sommer 2002 und bei einem Pilotversuch am Bezirksgericht Zürich im Jahr 2001 kamen zu vergleichbaren Ergebnissen. In beiden Projekten sind die Parteien sogar nur in 8 bis 9 % der Fälle den Mediationsanregungen des Gerichts gefolgt.

Die Erklärung liegt nahe. Wurde bereits Klage erhoben, haben sich die Rechtsauffassungen der Parteien verfestigt. Außerdem wurde bereits Zeit und Geld investiert, so dass die außergerichtliche Streitbeilegung jetzt als unnötiger „Umweg“ empfunden wird.

Dies gilt zumindest so lange sich die Qualität und insbesondere die Schnelligkeit der gerichtlichen Verfahren nicht verschlechtern. Tatsächlich ist es vielen Parteien schwer zu vermitteln, warum sie bei durchschnittlichen Verfahrensdauern von 3,7 Monaten vor baden-württembergischen Gerichten den manchmal zeitaufwändigen Weg einer Schlichtung beschreiten sollen.

Da eine Verschlechterung der gerichtlichen Verfahren selbstverständlich nicht in Betracht kommt, versuchen wir jetzt, die außergerichtliche Streitbeilegung zu fördern, indem wir die potenziellen Streitparteien über die Möglichkeiten der Schlichtung aufklären, bevor sie sich an die Gerichte wenden. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass die an sich begrüßenswerte Vielfalt des Schlichtungswesens viele Parteien verwirrt. Die Vielfalt der Verfahrensformen und Einrichtungen erscheint unübersichtlich. Die Unterschiede zwischen Schieds- und Schlichtungsstellen, Güte- und Kundenbeschwerdestellen, Ombudsleuten und Mediatoren sind vielen Parteien unklar. Durch Aufklärungsmaßnahmen muss ihnen deshalb vermittelt werden,

- welche Vorteile ihnen die außergerichtliche Streitbeilegung bietet,
- welche Verfahrensform für ihren Fall am besten geeignet ist,
- an welche Einrichtungen sie sich wenden können,
- welches Verfahren und welche Kosten sie dort erwarten.

Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir eine Entscheidungshilfe erarbeitet, die auf unserer Homepage abrufbar ist und die in Kurzform als Broschüre bezogen werden kann.

Die Aufklärung spricht aber überwiegend die Parteien an, die sich ohnehin schon für das Thema interessieren. Soll die Bereitschaft der Bevölkerung, die Schlichtung dem Gerichtsverfahren vorzuziehen, insgesamt deutlich gesteigert werden, bedarf es zusätzlicher Anreize, um die Parteien zur Durchführung eines Schlichtungsverfahrens zu motivieren.

Ich möchte dem nachfolgenden Statement nicht vorgreifen. Ein entscheidender Faktor sind nach meiner persönlichen Auffassung aber die Kosten. Wir müssen das Kostenrecht langfristig so umgestalten, dass Parteien und Anwälte dazu angehalten werden, schon vor Inanspruchnahme der Gerichte eine außergerichtliche Einigung zu erreichen. Das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz enthält erste Ansätze, die außergerichtliche Einigung für Anwälte gebührenrechtlich attraktiver zu gestalten.

Weitere Ideen könnten sich aus einem Blick über die Grenzen ergeben. In England hat der Richter beispielsweise seit einigen Jahren im Rahmen der Verteilung der Kosten des gerichtlichen Verfahrens auch zu berücksichtigen, ob eine außergerichtliche Streitbeilegung versucht wurde und warum sie gescheitert ist. Die Parteien laufen damit Gefahr, trotz Obsiegens in der Sache Kosten zutragen, wenn sie sich zumutbaren außergerichtlichen Einigungsversuchen verweigert haben. Möglicherweise ist dies mitverantwortlich für die deutlich größere Bedeutung der außergerichtlichen Streitbeilegung in England. Allerdings dürfte sich eine solche Regelung nicht ohne weiteres in das deutsche System einfügen lassen. Insbesondere ist nicht auszuschließen, dass die Berücksichtigung des vorprozessualen Verhaltens auf der Kostenebene zu einer Reihe von neuen rechtlichen und tatsächlichen Streitpunkten führt, deren Aufklärung das gerichtliche Verfahren verzögern.

Ich bin daher sehr gespannt, welche Reformvorschläge Herr Dr. Scherpe uns gleich im Anschluss vorstellen wird. »