ABC des Europarechts

Europäische Richtlinien und ihr Umsetzung

Was ist eine europäische Richtlinie?

Das Europarecht oder besser Gemeinschaftsrecht besteht aus drei verschiedenen Arten von Rechtsakten: dem Primärrecht (in erster Linie die Verträge), dem Sekundärrecht und der Rechtsprechung. Es ist ein unabhängiges Rechtssystem, das Vorrang vor den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften hat.

Die Richtlinien gehören ebenso wie die Verordnungen zum so genannten Sekundärrecht. Das Sekundärrecht baut auf den Verträgen auf und wird im Wege unterschiedlicher Verfahren, die in einzelnen Vertragsartikeln festgelegt sind, von den Organen der Europäischen Gemeinschaft erlassen.

Verordnungen

Dabei sind die Verordnungen unseren nationalen Gesetzen am ähnlichsten, sie sind unmittelbar gültig und in allen EU-Mitgliedstaaten rechtlich verbindlich, ohne dass es nationaler Umsetzungsmaßnahmen bedürfte. Sie werden insbesondere dann eingesetzt, wenn rechtliche Fragen einheitlich geregelt werden sollen, zum Beispiel die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

Richtlinien

Richtlinien hingegen binden nur die Mitgliedstaaten und dies im Hinblick auf die innerhalb einer bestimmten Frist zu erreichenden Ziele. Sie überlassen also den nationalen Behörden die Wahl der Mittel, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen. Die Umsetzung einer Richtlinie erfolgt daher durch einen nationalen Gesetzgebungsakt. Es kann daher durchaus sein, dass Unterschiede in nationalen Regeln fortbestehen. So war zum Beispiel die europäische Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf und den Verbrauchsgütergarantien von 1999 Anstoß für das Schuldrechtmodernisierungsgesetz welches wesentliche uns alle täglich betreffende Änderungen des BGB brachte. Zur Umsetzung der Richtlinien haben die Mitgliedstaaten einen bestimmten Zeitraum, innerhalb dessen sie die europäischen Vorgaben umsetzen müssen.


Was passiert, wenn ein Mitgliedstaat seiner Umsetzungspflicht nicht nachkommt?

Unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie gegenüber dem Staat
Die Mitgliedstaaten können sich selber grundsätzlich nicht darauf berufen, dass sie ihrer Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie nicht nachgekommen sind. Soweit eine nicht umgesetzte Richtlinie unmittelbar anwendbar ist, d.h.

  • ein dem Einzelnen zustehendes Recht i.S. einer den Bürger individuell begünstigenden Rechtsposition enthält
  • und die Richtlinie diese Rechtsposition hinreichend klar und bestimmt zum Ausdruck bringt

entfaltet sie gegenüber dem Staat unmittelbare Rechtswirkungen zugunsten des Bürgers.

Unbeachtlich ist dabei, in welcher Funktion der Mitgliedstaat auftritt. Diese Verpflichtung trifft sogar Organisationen oder Einrichtungen, auf die der Staat „nur“ einen besonderen Einfluss hat, und dies unabhängig von ihrer Rechtsform.

Umgekehrt kann aber die nicht rechtzeitige Umsetzung einer Richtlinie nicht zu einer Verpflichtung des Bürgers gegenüber dem Staat führen.

Schadensersatzanspruch gegen den Mitgliedstaat

Regelt die Richtlinie Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern (horizontales Verhältnis), dann trifft die Nichtumsetzung die Bürger nicht in ihrem Verhältnis untereinander nachteilig, d.h. die Richtlinie wirkt nicht direkt.

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) hatte im Jahr 1994 den Fall von Frau Dori zu entscheiden. Frau Dori hatte auf dem Hauptbahnhof von Mailand spontan von einem Straßenhändler einen Sprachkurs bestellt. Später reute sie sie Bestellung. Da aber der italiensche Gesetzgeber die europäische Richtlinie zum Widerruf von Haustür- und Straßengeschäften nicht fristgerecht umgesetzt hatte, sah das italienische Recht keinerlei Widerrufsmöglichkeit vor. Der EuGH verneinte in seiner Entscheidung von 14.07.1994 die unmittelbare Wirkung pflichtwidrig nicht umgesetzter europäischer Richtlinien. Ein Widerruf der Bestellung war somit für Frau Dori nicht möglich.

Jedoch hat der EuGH im Fall Dori klargestellt, das dem Bürger, dem durch die pflichtwidrige Nichtumsetzung einer unmittelbar anwendbaren Richtlinie ein Schaden entstanden ist, unter bestimmten Voraussetzungen ein Schadensersatzanspruch gegen den Mitgliedstaat zustehen kann.

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