Medizinische
Leistungen im EU-Ausland
A. Ausgangspunkt
Ursprünglich
wurden Kosten für eine medizinische Behandlung im Ausland nur in
eng umgrenzten Ausnahmefällen übernommen. Dafür wurden
europaweit einheitliche Formulare eingeführt, die als europaweit
gültiger Krankenschein fungieren bzw. die anschließende Kostenerstattung
erleichtern sollten.
Das
bekannteste ist das Formular „E 111“. Es ist für kurzfristige
Auslandsreisen gedacht und sichert die ärztliche Versorgung in Notfällen.
Die Kosten übernimmt der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung
im Reiseland und rechnet später mit der Versicherung im Heimatland
ab.
Das Formular „E 109“ erhalten Angehörige eines Arbeitnehmers,
die für längere Zeit ins Ausland ziehen, aber familienversichert
bleiben. Nach Vollendung des 25. Lebensjahrs sind diese aber verpflichtet,
sich selbständig zu versichern. „E 109“ gilt dann nicht
mehr.
Das Formular „E 106“ händigen die Krankenkassen der Mitgliedstaaten
Arbeitnehmern und Selbständigen aus, die im EU-Ausland leben, aber
in ihrem Heimatland versichert bleiben. Nach einer längeren Dauer
des Auslandsaufenthalts wird dieses Formular aber nicht mehr ausgestellt:
Die betreffenden Arbeitnehmer und Selbständigen müssen sich
dann im Aufenthaltsland versichern.
Zum
1. Juni 2004 soll eine einheitliche europäische Versicherungskarte
die bis dahin unverzichtbaren Papiervordrucke ablösen. mehr
B. Urteile des EuGH: Kohll (Rs. C-158/96) und Decker(Rs. C-120/95)
Der
EuGH entscheidet für ein Krankenversicherungssystem, das auf dem
sog. Erstattungsprinzip beruht, und für ambulante Behandlungen bzw.
den Kauf von medizinischen Hilfsmitteln:
-
Krankenkassen müssen ihren Versicherten die in einem anderen
Mitgliedstaat angefallenen Krankheitskosten (Brillenkauf bzw. Zahnbehandlung)
auch ohne vorherige Genehmigung entsprechend den Vorgaben (Leistungskatalog
und Erstattungssätze) im Staate des Versicherungsträgers
erstatten.
-
Eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des
Systems der sozialen Sicherheit kann einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses
darstellen, der eine Beschränkung des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit
rechtfertigen kann. (Eine solche Gefährdung wurde vorliegend
nicht nachgewiesen.)
Diese
Entscheidungen gelten unmittelbar nur für Versicherungssysteme, die
auf dem sog. Erstattungsprinzip basieren. Auf die Krankenversicherungssysteme,
die auf dem sog. Sachleistungs- und Vertragssystem basieren, gilt diese
Rechtsprechung nicht unmittelbar, also nicht für deutsche gesetzliche
Krankenkassen (soweit keine Kostenerstattung vereinbart ist).
Zudem wurde hier nur über die Erstattung von Krankheitskosten entschieden,
denen keine stationäre Behandlung vorausging.
C. Urteil des EuGH: Smits/Peerbooms (C - 157/99)
Der
EuGH entscheidet für ein Krankenversicherungssystem, das auf dem
sog. Sachleistungsprinzip beruht, und für stationäre Krankenhausaufenthalte:
-
Das Erfordernis der vorherigen Genehmigung der Kostenübernahme
für eine in einem anderen Mitgliedstaat gewährte Krankenhausversorgung
durch den nationalen Versicherungsträger ist eine notwendige
und angemessene Maßnahme zur Sicherung des finanziellen Gleichgewichts
des Systems der sozialen Sicherheit, und stellt damit einen zwingenden
Grund des Allgemeininteresses dar, der eine Beschränkung des
Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigt.
-
Eine solche vorherige Genehmigungen darf nur dann versagt werden,
wenn die Entscheidung auf objektiven und nicht diskriminierenden Kriterien
beruht, die im Voraus bekannt sind, damit dem Ermessen der Behörden
Grenzen gesetzt werden, die seine missbräuchliche Ausübung
verhindern. (Beispiel: Die medizinische Behandlung ist im Leistungskatalog
der Krankenversicherung nicht vorgesehen, oder es besteht keine medizinische
Notwendigkeit für eine Behandlung im Ausland, da die gleiche
oder für den Patienten ebenso wirksame Behandlung rechtzeitig
in einer Vertragseinrichtung erlangt werden kann.)
D. Urteil des EuGH: Müller-Fauré/van Riet (Rs. C-385/99)
Der
EuGH entscheidet für ein Krankenversicherungssystem, das auf dem
sog. Sachleistungsprinzip beruht, und sowohl für medizinische Behandlungen
in als auch außerhalb eines Krankenhauses:
-
Die Übernahme der Kosten für eine Krankenhausversorgung
in einem anderen Mitgliedstaat durch einen Leistungserbringer, mit
dem die Krankenkasse keine vertragliche Vereinbarung getroffen hat,
darf davon abhängig gemacht werden, dass die Kasse vorher ihre
Genehmigung erteilt. Nationale Vorschriften, nach denen diese Genehmigung
nur erteilt wird, wenn die medizinische Behandlung des Versicherten
es erfordert, stehen im Einklang mit geltendem Europarecht. Die Erforderlichkeit
der medizinischen Behandlung im Ausland kann nur dann verneint werden,
wenn die gleiche oder eine für den Patienten ebenso wirksame
Behandlung rechtzeitig in einer Einrichtung erlangt werden kann, die
eine vertragliche Vereinbarung mit der betreffenden Kasse getroffen
hat.
-
Art. 59 und 60 des Vertrages stehen aber denjenigen Rechtsvorschriften
entgegen, die eine Übernahme der Kosten für eine Versorgung,
die in einem anderen Mitgliedstaat außerhalb eines Krankenhauses
durch eine Person oder Einrichtung erfolgt, mit der die Kasse keine
vertragliche Vereinbarung getroffen hat, davon abhängig macht,
dass die betreffende Kasse vorher ihre Genehmigung erteilt hat. Dies
gilt ausdrücklich auch für diejenigen Krankenkassensysteme,
die auf dem sog. Sachleistungsprinzip beruhen.
E. Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend
lässt sich sagen, dass auch die Erbringung medizinischer Leistungen
unter den Begriff der Dienstleistung i.S.d. Vertrages fällt und dass
die Mitgliedstaaten daher bei der Ausgestaltung Ihrer sozialrechtlichen
Vorschriften den Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit beachten müssen.
Vorschriften, die die Erstattung von Kosten für medizinische Behandlungen
im Ausland von einer vorherigen Genehmigung durch die Kassen abhängig
machen, bedeuten eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit. Dies
gilt für
- ambulante
Behandlungen
-
stationäre Behandlungen
-
Krankenversicherungssysteme, die auf dem sog. Erstattungsprinzip beruhen,
-
Krankenversicherungssysteme, die auf dem sog. Sachleistungs- und Vertragsprinzip
beruhen.
Bei
der Frage, ob diese Beschränkung aufgrund einer erheblichen Beeinträchtigung
des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit gerechtfertigt
sein könnte, unterscheidet der Gerichtshof zwischen
-
Leistungen, die im Rahmen einer Krankenhausversorgung erbracht werden,
und
-
Leistungen, die außerhalb eines Krankenhauses erfolgen.
Die Kostenübernahme für Behandlungen in einem Krankenhaus
dürfen danach von einer vorherigen Genehmigung durch die Kasse
abhängig gemacht werden; Kosten für Behandlungen außerhalb
eines Krankenhauses müssen hingegen auch ohne vorherige Genehmigung
erstattet werden.
Dies gilt auf jeden Fall für die Krankenkassensysteme, die auf
dem Sachleistungs- und Vertragsprinzip beruhen. Die anderen Systeme,
die auf dem Kostenerstattungsprinzip aufbauen, hat der Gerichtshof
nicht ausdrücklich in seine Entscheidung mit einbezogen. Für
sie gilt aufgrund der Kohll/Decker-Urteile jedenfalls, dass die Kosten
für ambulante Behanlungen im Ausland ohne vorherige Genehmigung
erstattet werden müssen. Hinsichtlich der Krankenhauskosten wird
die Beurteilung der Frage nach der Anwendbarkeit dieser Rechtsprechung
auf Krankenkassen des letztgenannten Systems wird vor allem vom Vorliegen
einer vergleichbaren Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts
des Systems der sozialen Sicherheit auf der einen Seite sowie eine
möglicherweise aus einer Nichtanwendbarkeit dieser Rechtsprechung
folgenden Behinderung der Dienstleistungsfreiheit auf der anderen
Seite abhängen.
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